Liebst Du mich eigentlich

Gefühle und Zuneigung auszutauschen war nie eine Stärke unserer Familie gewesen. Man nahm sie mit einem Anflug von Verlegenheit zur Kenntnis. Ich kann mich nicht erinnern, daß die Worte "Ich habe dich lieb" jemals gefallen wären.

Als mein Vater in Rente ging, machte er seinen Traum war und sie zogen an die Küste.
Andere konnten nicht verstehen, daß es uns nichts ausmachte, so weit weg zu leben.
Für mich war das kein Thema. Doch auch das sollte sich ändern;

Ca . 8 Monate nach ihrem Umzug erhielt ich einen Anruf von meiner Mutter:"Ich habe schlechte Nachrichten. Papa hat Krebs. Aber mach dir keine Sorgen", beruhigte sie mich. "Es ist Hodgkin-Lymphom und nach den Ärzten kann man das gut behandeln"

Er müsse jetzt eine Chemotherapie machen und würde schon in ein paar Monaten wieder der Alte sein. Aber als ich zwei Monate später zu Besuch kam, erschrak ich. Er wirkte zerbrechlich, abgemagert und sein Kopf war kahl. Er kam mir vor wie 90, obwohl er erst 60 Jahre alt war.
Als ich ihn anschaute, überwältigten mich meine Gefühle.
Ich fiel ihm um den Hals und küsste ihn. Zum ersten Mal in meinem Leben sagte ich zu ihm:"Papa, ich habe Dich liebe."
Er schien leicht verwundert, meinte dann aber verlegen:"Ich dich auch."
Dann umarmte ich meine Mutter und erklärte ihr, daß ich sie liebe.
Ich löste mich behutsam von ihr und wartete auf eine Reaktion, die nicht kam. Stattdessen schien sie wie erstarrt.
Ich war verletzt und gedemütigt und versuchte verzweifelt, sie zu verstehen.
Was war los mit mir - oder mit ihr ?

Der Urlaub verging in Windeseile.
Wieder bei der Arbeit, hörte ich zufällig mit, wie eine Kollegin mit ihrer Mutter telefonierte.
Am Ende des Gesprächs sagte sie: "Ich habe dich lieb, Mama." Ganz einfach.
In ihrer Familie war es offensichtlich normal, seine Gefühle auszudrücken. Warum nicht in meiner ?
Tränen stiegen in mir hoch. So konnte es nicht weiter gehen.

Beim nächsten sonntäglichen Anruf packte ich die Gelegenheit am Schopf.
Nachdem wir die üblichen Scherze gemacht und die neuesten Nachrichten ausgetauscht hatten, holte ich tief Luft und fragte:
"Hast Du mich lieb ?"
Sie zögerte einen Moment, dann antwortete sie barsch:"Das weißt Du doch. Sei nicht albern."
"Wirklich ? Ich kann mich nicht erinnern, daß ich es jemals von Dir gehört habe."
"So etwas sagt man eben nicht in meiner Familie."
"Aber ich wünsche mir, daß wir uns ab jetzt immer mit `ich liebe Dich´ verabschieden. Das gilt natürlich auch für Papa."
Meine Mutter stimmte nur widerwillig zu, und zum ersten Mal beschloss ich unser Gespräch mit:"Ich liebe Dich, Mama."
"Ich liebe dich auch".

Das "Ich liebe Dich" ging uns immer leichter über die Lippen, bis wir ins garn nicht mehr vorstellen konnten, uns ohne diese Worte zu verabschieden.
Unterdessen hatte mein Vater seine Krebstherapie nach der Diagnose tatsächlich fast völlig erholt. Ein Jahr später brach der Krebs von Neuem aus, und er besiegte ihn noch einmal.

Der Stress und die Sorge um ihn hatte ihren Tribut von meiner Mutter gefordert, und im Mai 2000 wurde bei ihr Pankreaskrebs festgestellt, den nur 5 % der Betroffenen überleben. Sechs Moante später kam sie ins Krankenhaus, nur wenige Tage - bevor ich zu besuch kommen wollte.

Ein Anruf informierte mich, daß sie kaum noch bei Bewußtsein war. Ich jedoch bat die Schwester, ihr den Hörer an ihr Ohr zu halten, damit ich mit ihr sprechen konnte.
"Wahrscheinlich versteht sie Sie gar nicht." entgegnete sie.
Es war mir gleich und ich wollte auf jeden Fall mit ihr reden.
Als meine Mutter den Hörer am Ohr hatte, fing ich an zu schluchzen und sagte ihr immer wieder, wie lieb ich sie hätte - in der Hoffnung - sie würde mich hören.
Anfangs kam nichts als "Hmmmm", doch dann sagte sie mit einem tiefen Seufzer:"Liebe dich ... liebe dich, Schatz"
Es waren ihre letzen Worte. Sie starb um vier Uhr am nächsten Morgen. Mein Vater war an ihrer Seite.
Ihr Tod bedeutet natürlich ein großer Verlust, der entsetzlich weh tat, und ich vergoss viele Tränen.
Diese lieben - leider - letzte Worte zu hören, macht es erträglicher. Einen besseren Abschied hätte es für mich nicht geben können.

 

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